Stuttgart21-bg

von Loeper Literaturverlag

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Böninger/Haug/Sckerl (Hrsg.):
Mit Kanonen auf Spatzen
Stuttgart 21 im Blickwinkel des Untersuchungsausschusses zum 30.9.2010

Böninger/Haug/Sckerl (Hrsg.): Mit Kanonen auf Spatzen
 
Böninger/Haug/Sckerl (Hrsg.):

Mit Kanonen auf Spatzen

Stuttgart 21 im Blickwinkel des Untersuchungsausschusses zum 30.9.2010

Was geschah an jenem denkwürdigen „schwarzen Donnerstag“, dem 30. September 2010, wirklich im Stuttgarter Schlossgarten? Warum wurden tausende friedlich demonstrierender Schüler und Erwachsene mit Pfefferspray und Wasserwerfern niedergewalzt? Welchen Einfluss hatte der baden-württembergische Ministerpräsident Mappus und seine Regierung auf diese Ereignisse? Und was kam bei dem eingesetzten Untersuchungsausschuss wirklich heraus?

Fragen, denen dieses Schwarzbuch - aus der Sicht ganz unterschiedlicher Bürgerinnen und Bürger - nachgeht.

Das Buch macht deutlich: Es steht weit mehr auf dem Spiel als nur ein Bahnhof.

Mit Beiträgen von Beatrice Böninger, Arne Braun, Thomas Feltes, Gunter Haug, Matthias von Herrmann, Friederike Köstlin, Volker Lösch, Simone Naumann, Gerhard Raff, Dieter Reicherter, Anna Schnepper, Wolfgang Schorlau, Uli Sckerl, Axel Tschorn und Werner Wölfle.

Aus dem Erlös des Buches werden die zum Teil schwer verletzten Opfer der Polizeiaktion vom 30.9.2010 unterstützt..

ISBN 978-3-86059-370-7

 

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Inhaltsverzeichnis - Böninger/Haug/Sckerl (Hrsg.): Mit Kanonen auf Spatzen

Vorwort

Thomas Feltes und Anna Schnepper:
Stuttgart 21 - oder: wie Bürger, Polizei und Demokratie beschädigt wurden

Schlosspark Stuttgart, 30. 9. 2010
Die Warnung: Großeinsatz der Polizei
Der nächste Tag in der Presse
Der Leitartikel der Frankfurter Rundschau vom 1. 10. 2011
Das Wichtigste vom Tag

Gunter Haug: "Lebenslänglich!"
Matthias von Herrmann: Die Parkschützer: bürgerlich und konsequent
Ein Architekt aus Esslingen: Warum war ich vor Ort?
Brief eines Diplom-Linguisten aus Stuttgart
Stellungnahme eines Ehepaars aus Stuttgart
Gedächtnisprotokoll eines Kommunikationsdesigners aus Esslingen
Werner Wölfle: "Mehrheit ist nicht Wahrheit"

In der Natur der Sache?
Friederike Köstlin: Gestatten, Juchtenkäfer!
Simone Naumann: Von ignoriertem Artenschutzrecht und geplantem Rechtsbruch ...
Gerhard Raff: Mein Freund: der Baum, der Leser, der Polizist

Der Untersuchungsausschuss
Die Forderung
Der Untersuchungsausschuss
Der Untersuchungsauftrag
Die Stellungnahme
Beatrice Böninger: Spaziergang im Park
Die Einsatzplanung
Beweisaufnahme 29. November 2010
Beweisaufnahme 2. Dezember 2010
Beweisaufnahme 6. Dezember 2010
Die nicht gehörten Zeugen
Beweisaufnahme 10. Dezember 2010
Beweisaufnahme 14. Dezember 2010
Beweisaufnahme 17. Dezember 2010
Beweisaufnahme 20. Dezember 2010
Beweisaufnahme 22. Dezember 2010

Volker Lösch: der so genannte ermittlungsausschuss
Dieter Reicherter: Die Ohnmacht der Bürger
Uli Sckerl: "Allein gegen den Rest der Welt"
Axel Tschorn: Die Bekundungen der Rechtsprofessoren
Beatrice Böninger: Beobachtungen
Arne Braun: Von Pausenclowns und Tipps aus Berlin
Arne Braun: Aus der Vernahme von Stefan Mappus
Polizeikommissar Thomas Mohr: Um eine bittere Erfahrung reicher
Arne Braun: Innenminister Rech und der schwäbische Pflasterstein
Beatrice Böninger: Der Schlussakt

Dokumente
Prof. Ralf Poscher: Sachverständige Stellungnahme
Artikel der Landesverfassung Baden-Württemberg

AutorInnen-Verzeichnis

Vorwort

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Vorwort - Böninger/Haug/Sckerl (Hrsg.): Mit Kanonen auf Spatzen

Dieses Buch ist ein Schwarzbuch. Ein Schwarzbuch will Missstände aufdecken, Fakten sammeln, unbequeme Wahrheiten beim Namen nennen, Arbeit gegen das Vergessen leisten. All dies ist dringend geboten, wenn es um die Vorkommnisse des 30. September 2010 in Stuttgart geht.

Dieses Buch ist die Dokumentation eines der schwärzesten Tage in der Geschichte der Stadt Stuttgart und eines rabenschwarzen Tages für die Demokratie in Deutschland. Am 30. September 2010 wurden in der schwäbischen Metropole mit materialischen Methoden und mit den „treffenden Argumenten“ von Pfefferspray und Wasserwerfern tausende friedlich demonstrierender Schüler und Erwachsener zu Boden geworfen, hinweggefegt und zum Teil schwer verletzt. Doch Schaden nahmen an diesem Tag nicht nur die vielen Menschen, die körperlich und seelisch verletzt wurden, allen voran der nach dem Wasserwerfer-Einsatz nahezu erblindete Dietrich Wagner, der zum traurigen Symbol für den brutalen Polizeieinsatz im Stuttgarter Schlossgarten geworden ist. Das Foto von dem „Mann mit den blutigen Augen“ ging durch alle Medien − und in alle Welt. Gunter Haug erinnert in seinem Beitrag „Lebenslänglich!“ an ihn und die vielen anderen Opfer. Schaden nahmen an diesem „schwarzen Donnerstag“ auch die Grundrechte, die die Basis unserer Demokratie sind. Der Textchef der Frankfurter Rundschau, Stephan Hebel, beschreibt diesen Vorgang sehr treffend: „Es ist, weit über Stuttgart hinaus, dieser Angriff auf eine selbstbewusste Bürgergesellschaft, der Widerstand verdient − sogar von denjenigen, die den Bahn-Bau befürworten. Auch von ihnen dürften viele etwas dagegen haben, von „ihren“ Politikern auf diese Weise vertreten zu werden.“

In Zeugenberichten werden deshalb in diesem Buch die Ereignisse jenes denkwürdigen Tages minutiös und aus verschiedenen Perspektiven dargestellt. Auch ganz Unbekannte melden sich zu Wort, ein Architekt aus Esslingen, ein Diplom-Linguist aus Stuttgart oder ein Ehepaar aus Ebersbach. Mit spitzer Feder greifen aber auch bekannte Autoren und Journalisten, Juristen und Politiker das Selbst-Erfahrene auf, schildern ihre subjektiven Eindrücke und ergänzen so das sich aus vielen Puzzlesteinen zusammensetzende Bild. Viele Hintergründe, die allzu leicht in Vergessenheit geraten und über die selten oder gar nicht berichtet wird, werden hier kenntnisreich und kritisch erläutert. Insbesondere die Rolle der Landesregierung und ihr Einwirken auf die Sicherheitskräfte wird dabei untersucht. Fragen, die sich auch der vom baden-württembergischen Landtag einberufene Untersuchungsausschuss stellte.

Ein Untersuchungsausschusses, der anfänglich nur von den Grünen gefordert wurde. Erst durch den SPD-Landesparteitag in Ulm, wo ein Antrag der Jusos für den Untersuchungsausschuss eine Mehrheit fand stimmte auch die SPD dieser Maßnahme zu. Damit war die erforderliche Stimmenzahl erreicht, auch wenn der Untersuchungsausschuss mehrheitlich von den Regierungsparteien CDU/FDP besetzt war. Am 27.10. 2010 setzte der Landtag Baden-Württemberg den Untersuchungsausschuss „Aufarbeitung des Polizeieinsatzes am 30. September im Stuttgarter Schlossgarten“ ein. Seine Arbeit, die aufgeworfenen Fragen, die Einsatzplanung der Polizei und die Beweisaufnahen der einzelnen Verhandlungstage werden in diesem Buch ausführlich dargestellt und erläutert. Zu Wort kommen aber auch die Zeugen Dieter Reicherter und Alfred Müller-Kattenstroth, deren Aussagen aus unerfindlichen Gründen im Untersuchungsausschuss nicht angehört wurden. Eine der Gründe, warum der bekannte Stuttgarter Theatermacher die Arbeit des Untersuchungsausschusses so zusammenfasst:
„der parlamentarische untersuchungsausschuss
setzt sich in der mehrheit aus mitgliedern der regierungsparteien zusammen.
sein bizarres vorgehen -
also scheinbar fragen stellen, um wichtige fragen zu unterdrücken -
ist symptomatisch für den politikstil der jetzigen regierung:
ignorieren, versagen, ablenken, kleinreden, verschleiern, täuschen und aussitzen.“

Zu dieser Art der „Problembehandlung“ muss wohl auch das Auftreten des Professors für öffentliches Recht Dr. Thomas Würtenberger gezählt werden, dessen Gutachten - im Vergleich mit dem Rechtsgutachten von Dr. Poscher - in diesem Buch von Richter a.D. Axel Tschorn analysiert wird. Eine Lektüre, die auch für Nichtjuristen sehr lohnend ist.

Axel Tschorn ist einer der „Juristen gegen Stuttgart 21“, die durch ihren kritischen Sachverstand und ihre unermüdliche ehrenamtliche Tätigkeit entscheidende Impulse für die Aufarbeitung der Vorkommnisse vom 30.9.2010 und für die Bewahrung der demokratischen Grundrechte geleistet haben. Zu dieser Gruppe gehört auch Beatrice Böninger, ihres Zeichens Kriminalhauptkommissarin a. D., der ganz wesentlich das Entstehen dieses Buches zu verdanken ist. Sie hat die wichtige Koordinierung übernommen, das Buch von Anfang bis Ende begleitet, tatkräftig unterstützt und nächtelang die Korrekturfahnen gelesen, um ein schnelles Erscheinen des Buches zu gewährleisten.

Die Autorinnen und Autoren dieses Buches und noch viele tausende weitere kritische, aufmerksame und zupackende Bürgerinnen und Bürger - sie sind das eigentliche Rückgrat unserer Gesellschaft, sie sind die Mutbürger, die für das Gemeinwohl einstehen, wenn Einzel- oder Parteiinteressen es bedrohen.

Prof. Thomas Feltes und Anna Schnepper fassen es in ihrem einführenden Beitrag so zusammen: „Das gesamte Ausmaß des Schadens, den der Polizeieinsatz am 30.09.2010 hervorgerufen hat, wird man vielleicht erst in einigen Jahren überblicken können. Im Schlossgarten ist jedenfalls faktisch das Recht der Demonstranten auf körperliche Unversehrtheit dem Eigentumsrecht der Bahn geopfert worden. Dadurch wurde das „Urvertrauen“ der schwäbischen Bevölkerung in „ihre“ Polizei erschüttert. ... Bei vielen, die an den Demonstrationen beteiligt waren, ist das Vertrauen in den Staat und seine Institutionen möglicherweise unwiederbringlich verschwunden. Dies ist eindeutig ein zu hoher Preis für einen Bahnhof, dessen Nutzen für die Bürger auch nach den von Heiner Geißler moderierten „Schlichtungsgesprächen“ weiterhin umstritten ist.“

Dieses Buch möge dazu beitragen, dass die Ereignisse vom 30.9.2010 nicht in Vergessenheit geraten und daraus die nötigen Konsequenzen gezogen werden. Es geht um weit mehr als nur um einen Bahnhof!

Dankwart von Loeper

Autoren

Beatrice Böninger, geb. 1944, seit 1965 wohnhaft in Stuttgart. Kriminalhauptkommissarin a.D., Mitglied AK „Juristen zu Stuttgart 21“. Verschiedene historische Veröffentlichungen, zuletzt „Der Großherzogliche Bürgermeister von Herrnsheim bei Worms“ (2009).

Arne Braun, geb. 1965, Berater der Fraktion der Grünen im Landtag von Baden-Württemberg, viele Jahre Chefredakteur des Stadtmagazins „Lift“ Stuttgart.

Prof. Dr. iur. Thomas Feltes M.A., geb. 1951, Professor am Lehrstuhl für Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum.

Gunter Haug, geb. 1955 in Stuttgart-Bad Canstatt. Ehemaliger Leiter der Fernsehnachrichtenredaktion von SWF/SDR. Seit 2005 freier Autor, Verfasser von 30 Büchern, darunter die Bestseller „Niemands Tochter“ und „Niemands Mutter“ sowie Büchern über Bosch, Daimler und Fräulein Mercedes.

Matthias von Herrmann, geb. 1973, Politologe, Pressesprecher der Parkschützer im Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21. Er war mehrere Jahre bei Greenpeace aktiv.

Friederike Köstlin, geb. 1962, Theologin, kam durch ihre Arbeit bei einer grünen Landtagsabgeordneten und ehrenamtliches Engagement zum Natur- und Umweltschutz und zur Pressearbeit. Sie war zunächst Pressesprecherin beim BUND Baden-Württemberg und ist seit 2004 freie Journalistin.

Volker Lösch, geb. 1963, ist seit der Spielzeit 2005/06 Hausregisseur und Mitglied der künstlerischen Leitung am Schauspiel Stuttgart. Im Juli 2010 regte er gemeinsam mit dem Schauspieler Walter Sittler den Stuttgarter „Schwabenstreich“ an: „Jeden Abend um 19 Uhr ertönt ein neuer Schwabenstreich: Eine Minute Krach mit allem, was laut ist, es kann auch die eigene Stimme sein.“ Zudem beteiligte er sich mit einem Stuttgarter Bürgerchor, der Texte von Peter Weiss und Bürgerparolen skandierte, an den Stuttgarter Montagsdemonstrationen.

Simone Naumann, geb. 1974, ist Betriebswirtin und Umweltwissenschaftlerin. Nach ihren Tätigkeiten als Projektmanagerin bei der Bodensee-Stiftung und als Leiterin für Verbraucherschutz bei der Deutschen Umwelthilfe arbeitet sie seit 2009 als Referentin des Landesgeschäftsführers beim BUND Baden-Württemberg.

Dr. Gerhard Raff, geb. 1946 in Stuttgart-Degerloch, Historiker, Publizist  und einer der meistgelesensten Dialektautoren der Gegenwart, u. a. Autor des schwäbischen Klassikers „Herr, schmeiß Hirn ra!“

Dieter Reicherter, geb. 1947, Richter a.D.,  von 1999 − 2010 Vorsitzender Richter am Landgericht Stuttgart, Mitglied der „Juristen zu Stuttgart 21“

Anna Schnepper, geb. 1980, Ass. jur., wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin an der Ruhr-Universität Bochum, Lehrstuhl für Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft (Prof. Dr. Feltes).

Wolfgang Schorlau, geb. 1951, ist ein deutscher Schriftsteller und Autor von politischen Kriminalromanen. Er lebt und arbeitet als freier Autor in Stuttgart. 2006 wurde er mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet. Er ist Mitautor und Herausgeber des Buches „Stuttgart 21 − Die Argumente“, das im Herbst 2010 bei KiWi erschienen ist.

Uli Sckerl, geb 1951, Jurist und seit 2006 Landtagsabgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen im Landtag von Baden-Württemberg für den Wahlkreis Weinheim. In der Grünen-Fraktion ist er innenpolitischer und kommunalpolitischer Sprecher. Uli Sckerl war Obmann der Grünen im Untersuchungsausschuss zum 30.9.2010

Axel Tschorn, geb. 1945, von 1975 bis 2009 Richter am Amtsgericht Esslingen, heute im Ruhestand, Mitglied der „Juristen zu Stuttgart 21“.

Werner Wölfle, geb. 1951, Diplom-Sozialarbeiter, ist seit 1994 Mitglied des Gemeinderats der Stadt Stuttgart und seit 1996 Vorsitzender der Grünen Fraktion. Seit 2006 ist Wölfle Abgeordneter der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen im Landtag von Baden-Württemberg.

Leseproben

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Leseprobe

Stuttgart 21 oder: Wie Bürger, Polizei und Demokratie beschädigt wurden
von Thomas Feltes und Anna Schnepper

Kein Polizeieinsatz erregte im letzten Jahr so viel Aufsehen wie der anlässlich der Demonstration gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21. Die Stuttgarter Zeitung sprach von einer „gänzlich neuen Dimension“, die für die Polizei bei diesem Einsatz erreicht worden sei. Bisher sei „das Gegenüber immer von der Polizei beeinflussbar“ gewesen2. Die Öffentlichkeit wurde erschüttert, die Medien überschlugen sich, vor allem weil mit dem Ausmaß dieses Einsatzes offensichtlich niemand gerechnet hatte. Was Bürger und Medien am 1. Mai in Berlin-Kreuzberg erwarten, kam am 30. September 2010 im Stuttgarter Schlossgarten völlig überraschend.

Wie konnte es so weit kommen, dass das erste Mal seit 40 Jahren die Polizei in Stuttgart mit Wasserwerfern gegen Demonstranten vorging und wer trägt hierfür die Verantwortung? Es war Aufgabe des Untersuchungsausschusses, der am 27. Oktober 2010 im Landtag von Baden-Württemberg auf Antrag der SPD-Fraktion eingesetzt wurde, dies zu klären. Vor allem sollte festgestellt werden, ob die von CDU und FDP geführte Landesregierung (mit)verantwortlich für den massiven Polizeieinsatz war. Wie nicht anders zu erwarten, wurden die Ergebnisse des Ausschusses nicht einheitlich bewertet. Vorgänge wurden unterschiedlich geschildert, Aussagen der Sachverständigen widersprachen sich. Gerade deshalb ist es wichtig, dass möglichst viele Dokumente, Berichte und Beschreibungen der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden. Indem Vorgänge (auch aus subjektiver Sicht) beschrieben, analysiert und in Kontexte gestellt werden, wird zumindest ein Stück Transparenz geschaffen, die einerseits wichtig ist für die Demonstranten, deren Rechte verletzt wurden, und andererseits auch wichtig ist für die Polizei als Institution und für die Polizisten, die an den Einsätzen beteiligt waren und deren Ansehen massiv gelitten hat.

Die Frage, ob die polizeilichen Maßnahmen am 30. September 2010 verhältnismäßig und somit zulässig waren, haben die wissenschaftlichen Sachverständigen Poscher und Würtenberger versucht zu beantworten − mit unterschiedlichen Ergebnissen. Während Würtenberger zum Ergebnis kommt, dass der Einsatz rechtmäßig gewesen sei, hält Poscher den Einsatz von Wasserwerfern und Pfefferspray für unzulässig. Während Würtenberger allgemeine und rechtstheoretische Überlegungen anstellt, die besser in ein Lehrbuch für Jura-Studierende passen als in einen Untersuchungsausschuss, geht Poscher richtigerweise auf den konkreten Sachverhalt ein. Schließlich geht es in einem Untersuchungsausschuss um die Klärung konkreter Vorfälle und Verantwortlichkeiten. Entsprechend kann die Frage, ob der Einsatz von Wasserwerfern rechtmäßig gewesen ist, nur anhand einer solchen Einzelfallprüfung beantwortet werden. Hätte Würtenberger eine Einzelfallprüfung vorgenommen, wären seine Ergebnisse vermutlich anders ausgefallen, und daher kann man den Eindruck haben, dass genau dies der Grund war, auf der abstrakten Ebene zu bleiben. Sicherlich ist gerade der „konkrete Sachverhalt“ schwierig zu ermitteln, und auch Poscher musste in seiner Bewertung der Geschehnisse vieles offen lassen, weil der Polizeibericht zu den Vorgängen zwar umfangreich, in vielen Abschnitten aber eher nichtssagend oder beschönigend ist.

Die Aussage des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts zu den Vorfällen um Stuttgart 21, wonach es − so zitiert Würtenberger3 ihn − „zu den Spielregeln des demokratischen Rechtsstaates (gehört), dass Entscheidungen, die in einem Verwaltungsverfahren unter Einbeziehung der Bürger und einer ganzen Reihe von Sachverständigen getroffen worden sind, sowie in nachfolgenden Gerichtsverfahren bestätigt worden sind, einfach akzeptiert werden müssen“, ist gleichermaßen (juristisch) richtig wie (rechtstatsächlich) irreführend. Richtig ist die Aussage, weil bestandskräftige Verwaltungsentscheidungen vollzogen werden können und müssen. Wenn dies zu verhindern versucht wird, darf die Entscheidung notfalls auch mit polizeilichem Zwang durchgesetzt werden. Dies bedeutet aber nicht − und deshalb ist die Aussage irreführend − dass die entsprechende Entscheidung nach ihrem Erlass nicht mehr kritisiert werden darf. „Einfach akzeptiert“ werden muss in einer Demokratie gar nichts. Das Recht jedes Einzelnen, gegen politische oder juristische Entscheidungen sein Wort zu erheben und zu demonstrieren, ist nicht davon abhängig, wann die Entscheidung getroffen oder wann sie verkündet wurde. Dies gilt vor allem dann, wenn durch zeitliche Entwicklungen und damit z. B. Kostensteigerungen oder inhaltliche Veränderungen (z. B. andere Planungen), eine gegenüber der ursprünglichen Entscheidung andere Ausgangslage entstanden ist oder aber (wie ganz offensichtlich bei Stuttgart 21) einige durchaus relevante Aspekte erst später bekannt werden, weil sie vielleicht sogar bewusst verschwiegen wurden. 

Ob nun die Polizei Pfefferspray und Wasserwerfer tatsächlich einsetzen durfte, ob der Entscheidungsblick durch politische Vorgaben getrübt oder kanalisiert war, wird eine Frage sein, mit der man sich mit zeitlicher Distanz vielleicht noch einmal beschäftigen wird. Auch unserer Auffassung nach war der Einsatz von Wasserwerfern teilweise unverhältnismäßig und somit rechtswidrig. Die Polizei durfte nicht mit hartem Wasserstrahl auf Personen „schießen“. Laut der einschlägigen polizeiinternen Dienstvorschrift (PDV 122, Ziffer 5) darf ein so genannter „Wasserstoß“ − also ein Strahl mit hohem Wasserdruck − nur gegen Gewalttäter, vordringende (!) Störer und zur Verhinderung von Straftaten eingesetzt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 1998 darauf hingewiesen4, dass eine sukzessive Steigerung des Wasserwerfereinsatzes durch die Polizei notwendig sei, um den Demonstranten eine „hinreichende Möglichkeit (zu geben), den Verletzungen verursachenden Wasserstößen zu entgehen“. So erläutert auch Poscher in seiner Stellungnahme, dass der Einsatz von Wasserwerfern unmittelbar gegen eine Menschenmenge durch Wasserstöße mit hohem Druck (hier: 16 bar) nur dann zulässig ist, wenn die Menschenmenge „nach dem Gesamtbild gewalttätig war oder aber die Gewalttätigkeit einzelner fördert oder unterstützt“5. Sitzblockaden, Beleidigungen von Beamten und selbst das vereinzelte Werfen von Gegenständen wie Kastanien stellen gerade kein „nach dem Gesamtbild gewalttätiges Verhalten“ dar. Dafür hätten gravierendere Straftaten oder eine unmittelbar bevorstehende, nicht unerhebliche Gefahr für Leib oder Leben der Polizeibeamten vorliegen müssen.

Die Anwendung unmittelbaren Zwangs (wozu der Einsatz von Wasserwerfern zählt) zur Durchsetzung von privaten Rechten oder Verwaltungsentscheidungen ist und bleibt ultima ratio, also das tatsächlich allerletzte Mittel. Es hätten andere, mildere Maßnahmen wie das Wegtragen oder die Ingewahrsamnahme einzelner Störer angewendet werden müssen, auch wenn dies (mehr) Zeit gekostet hätte. Die pauschale Behauptung Würtenbergers, die Anwendung unmittelbaren Zwangs sei nötig gewesen6, ist nicht nachvollziehbar. Es ist bei ähnlichen Fällen durchaus übliche polizeiliche Praxis und Taktik, weniger stark eingreifende Mittel zu wählen (wie es z. B. bei dem kurz darauf stattgefundenen Einsatz beim Castor-Transport der Fall war) oder aber sich die für die Kommunikation mit den Demonstranten notwendige Zeit zu nehmen, um deeskalierend zu wirken. Dies entspricht dem polizeilichen Einsatzprinzip und ist auch polizeitaktisch sinnvoll, da beim Vorgehen gegen Einzelpersonen diese isoliert werden können und so in der Regel verhindert werden kann, dass sich die Gewaltbereitschaft auf andere Personen ausweitet. Dass die Polizei den Einsatz auch im Untersuchungsausschuss rechtfertigte, ist als der individuell wie strukturell durchaus nachvollziehbare Versuch zu sehen, etwas nachträglich zu legitimieren, was nicht zu legitimieren war. Die an den Tag gelegte Eile und überzogene Hektik lassen den Schluss zu, dass die Politik und nicht die Polizei diesen Konflikt wollte7, wenn vielleicht auch nicht in dieser Form. Sie, d. h. die Landesregierung und diese möglicherweise sogar in Abstimmung mit der Bundesregierung, wollte schnell Fakten schaffen, die nicht mehr rückgängig zu machen gewesen wären.

Wer allein die Schuld bei der vor Ort anwesenden Polizei sucht, macht es sich daher nicht nur zu einfach, sondern verschleiert auch die tatsächlichen Verantwortlichkeiten. Auch und gerade die Polizeibeamten in Baden-Württemberg waren tief darüber enttäuscht, dass die hart erarbeitete Linie von Kommunikation und Kooperation von einem Ministerpräsidenten, der nur an sein eigenes politisches Schicksal sowie die finanziellen Interessen einiger weniger Unternehmer zu denken scheint, verspielt wurde. Aus der Sicht der Gewerkschaft der Polizei hätte dieser Einsatz so nie stattfinden dürfen, weil es Aufgabe der verantwortlichen Politik und des Bauherrn gewesen wäre, bei einem so breiten Protest innerhalb der Bevölkerung miteinander zu reden. Der Sprecher einer GdP-Kreisgruppe formulierte dies so: „Ich habe sehr viele Kollegen, die den Einsatz für überzogen gehalten haben. … So was wie am 30. September will keiner mehr erleben“. Er persönlich habe es auch „als absolute Machtdemonstration“ empfunden8. Die GdP befürchtet vermutlich zu Recht, dass die vor Ort anwesenden Polizistinnen und Polizisten „ihren Rücken für parteipolitische Auseinandersetzungen hinhalten, um anschließend beschimpft zu werden“9. Für die GdP war eines klar: „Wir sind da in einen Einsatz geschickt worden, der so hätte nie stattfinden dürfen!“

Nicht nur der Polizei des Landes, sondern auch bundesweit sei ein immenser Imageschaden entstanden. Darum habe sich die GdP auf Landes- und Bundesebene abgestimmt, „hier auch die Verantwortlichen der Politik zu nennen, die uns das eingebrockt haben. Immer mehr Kolleginnen und Kollegen, die am besagten Einsatztag dabei waren, fühlen sich verheizt, benutzt und für eine politische Auseinandersetzung zweckentfremdet“10. Einsatzhundertschaften, die aus anderen Bundesländern eilends nach Stuttgart bestellt wurden, als man feststellte, dass die Lage außer Kontrolle zu geraten schien, waren von der Aggressivität der Demonstranten überrascht, mit der sie nach ihrem Eintreffen im Laufe des Abends konfrontiert wurden. Selbst Castor- und Fußballspiel-erfahrene Führer von Einsatzhundertschaften fragten sich, was vorher geschehen sein musste, um „normale schwäbische Bürger“ derart in Rage zu bringen. Offensichtlich hatte man ihnen lediglich taktische Einsatzhinweise gegeben, sie aber nicht über die Vorgänge am Nachmittag informiert. Es zeigte sich dann, dass die fremden (und in der Situation neuen) Polizeibeamten es vermochten, eine Kommunikationsebene mit den Demonstranten zu finden und ihren Auftrag ohne übermäßige Aggressionen auf beiden Seiten umzusetzen.

Quasi um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen, versuchten Politiker anschließend, Gewerkschafter, die kritische Fragen stellten oder in Fernsehsendungen Stellung bezogen, mundtot zu machen und an den Pranger zu stellen. Dabei sind − und das weiß die GdP sehr wohl − ihre Einflussmöglichkeiten begrenzt. Ethik, Polizeikultur und polizeiliches Alltagshandeln geraten oftmals aneinander11, wie auch die von der Polizei unterstützten Bestrebungen in Hessen gezeigt haben, dort einen Polizeibeauftragten bzw. Ombudsmann für die Polizei einzurichten12. Widerstand innerhalb der Institution Polizei wird in der Regel mit Degradierung „belohnt“ − wie etwa im Fall des ehemaligen Stuttgarter Polizeipräsidenten Volker Haas, der wegen zu viel Toleranz und Bürgernähe seinen Platz räumen musste und bis zu seiner Pensionierung im Ministerium Akten sortieren durfte13.

Man wird vielleicht erst nach der Pensionierung des leitenden Polizeiführers erfahren, welche Rolle die Polizeiführung beim Einsatz am 30. September tatsächlich gespielt und welche Vorgaben die politische Führung gemacht hat. Fakt ist, dass viele Polizeibeamte das Gefühl haben, von der Politik missbraucht zu werden und deren Fehler ausbaden zu müssen − und dies nicht nur in Stuttgart14. Dabei ist und bleibt die in der Polizei kaum vorhandene Fehlerkultur ein wichtiges strukturelles Problem. Ein konstruktiver Umgang mit und eine selbstkritische Aufarbeitung von falschen Entscheidungen oder Praktiken findet nur selten statt. Fehler „dürfen“ nicht vorkommen. Wenn diese dennoch − wie überall − passieren, werden sie vertuscht, was der Beginn einer problematischen gegenseitigen Abhängigkeit zwischen Beamten und Vorgesetzten sein kann15. Hinzu kommt, dass ein Polizeibeamter, der nur in diesem einen Landesbetrieb „Polizei“ arbeiten kann, kaum eine andere Arbeitsplatzalternative hat: Seine Personalakte und, viel schlimmer, sein Ruf und das Gerede um ihn wandern mit ihm durch das Land. Polizeibeamte, die sich (informell oder auch förmlich) gegen Kollegen oder Vorgesetzte auflehnen, können auf Jahre hinaus sozial eliminiert werden. Wohl in allen Bundesländern gibt es eine größere Zahl von Polizeibeamten, die ausgebrannt oder psychisch angeschlagen sind.

Gegenwärtig gibt es in Deutschland für Polizeibeamte immer noch keine Möglichkeit, sich vertraulich an eine vom Dienstherrn eingerichtete, unabhängige Stelle zu wenden, obwohl diese seit langem auch hierzulande gefordert und international mit Erfolg praktiziert wird16. Um mit dem ehemaligen Hamburger Innensenator Wrocklage17 einen unverdächtigen Zeugen zu zitieren: „Ohne eine effektive externe demokratische Kontrollinstanz, wie eine funktionsgerecht ausgestattete hauptamtliche Polizeikommission oder ein hauptamtlicher Polizeibeauftragter, fehlt eine wirksame Gegenmacht, die eine demokratische Organisationskultur und ein demokratisches Selbstverständnis in der Polizei wirksam und dauerhaft zu schaffen und zu schützen in der Lage wäre. Das ist ein schweres Defizit im Bereich des aktiven Demokratieschutzes“. Wrocklage bezieht sich dabei auf den Bericht des EU-Menschenrechtskommissars Thomas Hammarberg über dessen Besuch in Deutschland im Oktober 200618, wonach die Polizei in einer demokratischen Gesellschaft bereit sein müsse, ihre Maßnahmen überwachen zu lassen und dafür zur Verantwortung gezogen zu werden. Obwohl es interne Mechanismen gibt, die sich mit Fällen mutmaßlichen Fehlverhaltens der Polizei in Deutschland befassen, rief der Kommissar die deutschen Behörden auf, unabhängige Beobachtungs- und Beschwerdegremien einzurichten.

Eine unabhängige Untersuchungskommission hätte sicherlich auch in Stuttgart viel zur Aufklärung beitragen und zwischen den Beteiligten vermitteln können. Stattdessen erhärten sich die Fronten weiter. Ein (zugegeben subjektiver) Bericht von der „Mahnwache“ Ende Januar 2011 beschreibt folgendes: „Die Polizei scheint seit heute rund um die Baustellen eine neue Gangart zu fahren: Es wird an Demonstranten/Blockierer nur noch eine Aufforderung zum Gehen gemacht und anschließend werden nicht nur Blockierer, sondern auch in der Nähe der Baustelle Stehende von Polizeiketten eingekreist und offensichtlich alle erhalten eine Anzeige wegen Nötigung nach Personalienaufnahme, also auch die, die nicht blockiert haben und nicht einmal in unmittelbarer Nähe der Baustellen standen. ... Das betraf heute Morgen 15-20 Personen, von denen die meisten gar nicht blockiert haben. Eine Polizistin bestätigte einer der Angezeigten die neue Gangart, wonach nur noch einmal gewarnt wird und alle Umstehenden eine Anzeige wegen Nötigung erhalten und nicht wegen Verletzung des Versammlungsverbotes. … Bei den Montagsdemos kommt es in letzter Zeit immer häufiger vor, dass die Polizei die Straße nicht sperrt und Fahrzeuge in die Masse der Demonstranten gelenkt werden“19.

Sollten diese Aussagen auch nur ansatzweise zutreffen, so scheint aus dem 30. September nicht gelernt worden zu sein. Einerseits muss mit einer neuen Eskalation gerechnet werden, andererseits werden sich immer mehr Bürger im Sinne einer Kosten-Nutzen-Abwägung fernhalten und von ihrem Recht auf Versammlungsfreiheit keinen Gebrauch mehr machen. Dies wäre ein schwerer Rückschlag für unsere Demokratie, und man kann nur hoffen, dass die eingesetzten Polizeibeamten moralisches und demokratisches Rückgrat beweisen und die Transparenz herstellen, die eine demokratische Gesellschaft erwarten kann. 

Das gesamte Ausmaß des Schadens, den der Polizeieinsatz am 30.09.2010 hervorgerufen hat, wird man vielleicht erst in einigen Jahren überblicken können. Im Schlossgarten ist jedenfalls faktisch das Recht der Demonstranten auf körperliche Unversehrtheit dem Eigentumsrecht der Bahn geopfert worden. Dadurch wurde das „Urvertrauen“ der schwäbischen Bevölkerung in „ihre“ Polizei erschüttert. Wer über 100 Jahre alte Bäume achtlos fällen lässt, die selbst in den kältesten Wintern des 2. Weltkrieges von den Stuttgartern nicht angetastet wurden, weil sie lieber froren als „ihren“ Stadtpark zu beschädigen, der beweist pure Arroganz und kann kein Verständnis der Bürger erwarten. Bei vielen, die an den Demonstrationen beteiligt waren, ist das Vertrauen in den Staat und seine Institutionen möglicherweise unwiederbringlich verschwunden. Dies ist eindeutig ein zu hoher Preis für einen Bahnhof, dessen Nutzen für die Bürger auch nach den von Heiner Geißler moderierten „Schlichtungsgesprächen“ weiterhin umstritten ist.

Die Frage ist nun, was geschehen könnte, um das Vertrauen zumindest in Teilen der Bevölkerung wieder herzustellen und eine weitere Eskalation zu verhindern. Ein Schritt in die richtige Richtung wäre es, wenn Ernst gemacht würde und die (ansatzweise begonnene) Ausbildung von selbstbewussten, demokratischen Werten verpflichteten Polizeibeamten fortgesetzt und die „innere Führung“ so gestaltet würde, dass die erlangten Fähigkeiten im Polizeialltag auch umgesetzt werden können. Nicht derjenige sollte als guter Polizist gelten, der blind Befehle und Anweisungen ausführt, sondern derjenige, der (auch) bereit ist, sich einzumischen und zu Wort zu melden. Hier ist auch und vor allem die Polizeiführung im „mittleren Management“ gefordert, die heute so gut wie noch nie in unserer Republik dafür qualifiziert wird, einer demokratischen Polizei auch ein demokratisches Gesicht zu geben.

Medienberichte


Monika Kappus (Hrsg.)
Bürger Macht Politik
Der Protest gegen Stuttgart 21 als Chance für die Demokratie

Hrsg. in Zusammenarbeit mit der Frankfurter Rundschau: Bürger Macht Politik
 
Monika Kappus (Hrsg.)
in Zusammenarbeit mit der Frankfurter Rundschau:

Bürger Macht Politik

Der Protest gegen Stuttgart 21 als Chance für die Demokratie

Geht es bei der Protestbewegung gegen Stuttgart 21 wirklich „nur um einen Bahnhof“, wie Spötter meinen? War und ist der Aufbruch der Bürgergesellschaft auf Stuttgart, auf den Widerstand gegen dieses eine Projekt, begrenzt? Die große, bundesweite Resonanz lässt auf etwas anderes schließen: Die Gesellschaft macht sich auf den Weg, die (Macht-) Verhältnisse zwischen Bürgern und Politik neu − und hoffentlich demokratischer − zu ordnen. In Stuttgart und weit über Stuttgart hinaus.

Die Beiträge in diesem Buch, hervorgegangen aus einer Serie in der Frankfurter Rundschau, beleuchten eine womöglich historische Veränderung. Sie wagen eine Einordnung der Konfrontation, während sie noch in vollem Gange ist. So werden nicht nur Beteiligte wie der Stuttgarter Oberbürgermeister Wolfgang Schuster und einer seiner öffentlich wirksamsten Kontrahenten, der Schauspieler Walter Sittler oder der als Parkschützer bekannt gewordene Matthias von Herrmann befragt. Zu Wort kommen vor allem auch Autorinnen und Autoren, die aus der Distanz der großen Lebenserfahrung, der anderen politischen Kultur oder der wissenschaftlichen Beobachtung einen wichtigen Beitrag leisten können, u.a. Götz Aly, Max Bächer, Rafael Behr, Nils Büttner, Matthias Deutschmann, Ferdos Forudastan, Peter Friedrich, Karl Heinz Götze, Seraina Gross, Stephan Hebel, Christine Hohmann-Dennhardt, Wiebke Johanning, Volker Lösch, Hannelore Schlaffer, Christian Schlüter und Joachim Wille.

Der Band wird ergänzt durch eindrückliche Fotografien
von Alex Kraus.
120 Seiten, kart., € 9,90

ISBN 978-3-86059-371-4

 

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Inhaltsverzeichnis - Bürger Macht Politik

Stephan Hebel: Vorwort

Beweg-Gründe

Nicht um jeden Preis - Streitgespräch zwischen Wolfgang Schuster und Walter Sittler
Matthias Deutschmann: Die tiefergelegte Zukunft
Götz Aly: Noch ist Stuttgart nicht verloren
Warum die Bahnhofsgegner siegen werden - 10 Fragen an August Diehl

Hinter-Gründe
Karl Heinz Götze: Eigensinn verbindet
Hannelore Schlaffer: Von 1968 bis heute
Wiebke Johanning: Eigensinnig und widerständig

Sicht-Weisen
Seraina Gross: Zwei Länder, zwei Welten
Max Bächer: Großbaustelle für Generationen
Christine Hohmann-Dennhardt: Ein Stück von der Staatsgewalt zurückholen
Joachim Wille: Gegner mit CDU-Parteibuch
Ferdos Forudastan: Gute Zeiten für Bürger
Nils Büttner: Denkmalpflege als Nebensache
Christian Schlüter: Mal eben das Marketing nachholen
Rafael Behr: Polizei zwischen den Fronten
Peter Friedrich: Mehr Demokratie machen
Volker Lösch: Theater des Jahres

Nach dem Protest ist vor dem Protest
Stephan Hebel: Nieder mit den Plattitüden
Das volle Programm - Gespräch mit Matthias von Herrmann
Joachim Wille: Geißler sollte Schule machen

Anhang
Schlichtungsempfehlung von Heiner Geißler

AutorInnenverzeichnis

Vorwort

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Vorwort - Bürger Macht Politik

Die Abrissbirne war aufgefahren, die ersten Bäume waren gefällt, Wasserwerfer und Pfefferspray hatten ihr Werk getan, da sagte die Bundeskanzlerin der stetig wachsenden Bürgerbewegung gegen „Stuttgart 21“ die Meinung: „Wenn man nur an sich denkt und nicht an kommende Generationen“, rief Angela Merkel, dann „ist das ein Problem für unser Land“. 

Egoisten, die „nur an sich denken“ − das sind für die deutsche Regierungschefin nicht etwa die Konzerne, die unter ihrer Regierung so prächtig gedeihen. Der Angriff gilt Bürgerinnen und Bürgern, die aus Sorge um kommende Generationen gegen ein unkalkulierbares Milliardenprojekt protestieren.

Über Angela Merkel lässt sich vieles sagen, aber dafür, dass sie einfach mal so zur Beleidigung Andersdenkender greift, ist sie nicht bekannt. Die Attacke muss ihren Grund haben, und den hat sie. Große Teile der „politischen Klasse“ in Deutschland, die Kanzlerin an der Spitze, empfinden eine Bedrohung der gewohnten Machtbalance. Sie sind zutiefst verunsichert, denn plötzlich geschieht etwas Neues.

Die Tatsache, dass überhaupt demonstriert wird, irritiert sie nicht unbedingt. Das kennt man im etablierten Parteiensystem, und man konnte damit umgehen: Eine Minderheit, meistens ideologisch gut einzuordnen und ohne große Mühe als radikal abzustempeln, protestierte gegen Atomkraft, Straßenbau oder Krieg. Der Rest ging wählen und schwieg. Plötzlich aber, und dafür steht „Stuttgart 21“ Modell, sind die Demonstranten nicht mehr in die Ecke der ewig Unzufriedenen zu stellen. Nicht nur der Linksradikale, nicht nur der Öko-Freak und nicht nur der Pazifist, nein: „Der Bürger“ macht Politik, und der Bürger fordert mehr Macht − wen immer er beim letzten Mal gewählt haben mag. 

So wie viele andere haben wir in der Redaktion der Frankfurter Rundschau fasziniert beobachtet, wie die Mehrheit der Stuttgarter Gesellschaft sich quer durch die Schichten, Altersgruppen und politischen Lager Gehör verschaffte. Ging es da wirklich „nur um einen Bahnhof“, wie Spötter meinten? War und ist der Aufbruch der Bürgergesellschaft auf Stuttgart, auf den Widerstand gegen dieses eine Projekt, begrenzt? Das glaubten und glauben wir nicht. Vielmehr lässt nicht zuletzt die große, bundesweite Resonanz auf etwas anderes schließen: Die Gesellschaft macht sich auf den Weg, die (Macht-)Verhältnisse zwischen Bürgern und Politik neu − und hoffentlich demokratischer − zu ordnen. In Stuttgart und weit über Stuttgart hinaus. 

Die Serie, auf der dieses Buch beruht, entsprang dem Wunsch, diese womöglich historische Veränderung über die Chronistenpflicht hinaus zu beleuchten. Wir nahmen uns vor, möglichst viele und sachkundige Stimmen zu sammeln, die es wagten, die Konfrontation schon einzuordnen, während sie noch in vollem Gange war. Wir fragten nicht nur Beteiligte wie den Stuttgarter Oberbürgermeister Wolfgang Schuster und einen seiner öffentlich wirksamsten Kontrahenten, den Schauspieler Walter Sittler. Zu Wort kamen vor allem auch Autorinnen und Autoren, die aus der Distanz der großen Lebenserfahrung (wie Erhard Eppler), der anderen politischen Kultur (etwa Seraina Gross aus der Schweiz) oder der wissenschaftlichen Beobachtung einen Beitrag leisten konnten.

In diesem Sinne sind wir zuversichtlich, dass die Beiträge unserer Serie über den Tag hinaus Gültigkeit haben. Und deshalb sind wir der Anregung, sie in einem Buch zu versammeln, sehr gerne gefolgt.

Nicht alle, aber die meisten unserer Autorinnen und Autoren stehen dem Versuch der Protestierenden, sich das Recht auf nachträgliche Korrektur politischer Entscheidungen zu erkämpfen, positiv gegenüber. Allerdings war uns nicht daran gelegen, eine Freudenbekundung über das große Engagement an die nächste zu reihen. Zu fragen war nach den Chancen, aber auch nach den Risiken eines Prozesses, der − bei nachhaltigem Erfolg − die Architektur der repräsentativen Demokratie grundlegend verändern könnte.

 Genau das ist es, was die Bundeskanzlerin und andere aus dem politischen Establishment fürchten. Sie sehen sich, so viel an hehren Motiven darf ihnen unterstellt werden, als Verteidiger eines seit 60 Jahren bewährten, demokratischen Systems gegen „die Straße“. Sie kennen keine höhere demokratische Vernunft als diejenige des parlamentarisch-repräsentativen Systems. Eines Systems, das ja tatsächlich auch in Sachen „Stuttgart 21“ perfekt funktionierte: In Prozessen, die allgemeingültigen und demokratisch erstellten Regeln folgten, haben die Regierenden, die parlamentarischen Repräsentanten des Volkes und am Ende die dritte Gewalt, die Justiz, entschieden. In den Ergebnissen liegt − so diese Sichtweise − deshalb das höchste erreichbare Maß an Zukunftstauglichkeit und Vernunft.

Auch wer anders denkt, wird zunächst zugeben: Darin steckt etwas vom großen Versprechen der Demokratie. In geregelten Verfahren tauschen die Repräsentanten des Volkes, gewählt und ernannt nach wiederum geregelten Verfahren, alle denkbaren Argumente aus. Keine Meinung, so das Ideal, muss draußen bleiben. Dafür sorgt, spätestens bei den nächsten Wahlen, das in Parteien und Interessengruppen organisierte Volk.

Wer glaubt, dass dieses System auch heute noch hervorragend funktioniert, dem kann es nur irrational erscheinen, wenn dasselbe Volk nach all den rationalen Prozeduren der Entscheidungsfindung noch auf die Straße geht und „Nein“ ruft. Hätten die Demonstranten rationale Gründe, so diese Sicht, dann wären sie ja bei all den Anhörungen und Einspruchsverfahren und Planfeststellungen längst berücksichtigt worden. Und deshalb, so die Projekt-Befürworter, steht auf der Gegenseite das Irrationale: die Angst, der Egoismus, das „Wohlstandsverwöhnte“ (Ulrich Goll, FDP), der „gefährliche Weg in die Stimmungsdemokratie“ (Hermann Gröhe, CDU). Recht kann nicht haben, wer im Verfahren kein Recht mehr hat.

Wer so denkt, kann das Zeichen, das in der zunehmenden Zahl und Breite der Bürgerbewegungen liegt, nicht deuten. Er sieht nicht, dass sich die Vielfalt der Gesellschaft in den Prozessen und Organisationsformen der repräsentativen Demokratie nur noch unvollständig wiederfindet. Er verpasst die Chance, die parlamentarische Demokratie so transparent und beteiligungsfreundlich zu machen, wie es den Bedürfnissen des 21. Jahrhunderts entspricht.

Dem industriellen Zeitalter bis fast ans Ende des 20. Jahrhunderts mag es angemessen gewesen sein, wie sich in der Bundesrepublik die wichtigsten Interessen organisierten. Auch lange nach dem Zweiten Weltkrieg ließ sich für alle Bürger relativ leicht nachvollziehen, welche Partei in den zentralen Fragen − technischer Fortschritt, sozialer Ausgleich, innerer und äußerer Frieden − welche Position vertrat. Und wenn sich neue Parteien bildeten, dann wirkte das nur wie ein zusätzlicher Beweis für die Funktions- und Anpassungsfähigkeit des Systems: Erst fand die ökologische Frage ihre Organisationsform in den Grünen, dann bildete sich − als Sammelbecken des Protests gegen soziale Ungleichheit − die Linkspartei, die sich in der ehemaligen DDR schon als Begleiterin von der Diktatur in den Parlamentarismus stabilisiert hatte.

Heute, gut 20 Jahre nach dem Fallen der europäischen Grenzmauern, haben das nahende Ende der Industriegesellschaft und die rasante Globalisierung zu einer großen Unübersichtlichkeit geführt. Alte Bindungen − an die Familie, an den Wohnort, an den Arbeitgeber, an große Denk- und Glaubensgemeinschaften, eben auch an Parteien − verlieren im gleichen Maße an Bedeutung, in dem die alles beherrschenden Anforderungen von Arbeit und Ökonomie uns teils bis zur Unkenntlichkeit flexibilisiert haben.

Die Zeiten sind vorbei, in denen das programmatische, das ideologische Rüstzeug dieser oder jener Partei zu jeder Frage eine Antwort zu geben schien, zumindest eine Richtungsanweisung. Nicht, dass es den Streit der großen Linien nicht mehr gäbe, es gibt ihn vor allem in sozialen Fragen, und zwar mit Recht. Aber gerade dort, wo es die konkrete Gestaltung des eigenen Lebensumfelds betrifft, können Parteiprogramme oft keine Antworten geben.

Nicht einmal Stadträte oder Landtagsabgeordnete vermögen zu entscheiden, was nach den Grundüberzeugungen ihrer Partei wohl die beste Lösung ist, und für die Bürger transparent begründen können sie es erst recht nicht. Welchem Teil des Parteiprogramms soll ein Dresdner CDU-Abgeordneter Vorrang geben: einer reibungslosen Infrastruktur für Wirtschaft und Verbraucher (Waldschlößchen-Brücke) oder dem zutiefst konservativen Wunsch nach Erhaltung des historischen Stadtbildes? Wie soll ein Stuttgarter Sozialdemokrat entscheiden, wenn ihm einerseits Arbeitsplätze und Wohnungen in der neu „entwickelten“ Stadtmitte versprochen werden und andererseits das Geld für Kindergärten im Tunnel zu versickern droht?

Für die repräsentative Demokratie bedeutet das: Ihre wichtigsten Institutionen, die Parlamente, sind immer weniger Orte des Streits um die Sache. Deren überforderte Mitglieder flüchten sich in die inhaltsentleerte Gemeinschaft des Fraktionszwangs. All das ist, wie gesagt, kein Wunder. Aber es erklärt zu einem guten Teil die gefährliche Entfremdung vieler Bürger von „ihrem“ politischen System.

Wenn die parlamentarische Demokratie ihre Glaubwürdigkeit erhalten − oder wiedergewinnen − will, dann braucht sie die Augen und Ohren der Menschen, und sie sollte sich freuen über jeden, der sich engagiert. Sie wird Mechanismen erfinden müssen, mit denen die erfreulich aktive Bürgergesellschaft früher und wirksamer als bisher in Planungs- und Entscheidungsprozesse eingebunden wird.

Es geht, auch das ist den Beiträgen in diesem Buch zu entnehmen, keineswegs darum, bewährte Prozeduren durch die Willkür „lautstarker Minderheiten“ zu ersetzen, wie manch ein etablierter Parteipolitiker gerne unterstellt. Es geht darum, die gefährliche Lücke zwischen dem Bürgerwillen und dem Handeln der Repräsentanten zu schließen. Es geht darum, zu akzeptieren, dass das Wählen zwischen Parteien allein diesem Bürgerwillen nicht mehr ausreichend entspricht.  

Dieses Buch kann keine endgültigen Antworten geben. Noch ist es zu früh, eine zukunftsfeste Architektur unseres demokratischen Systems vollständig zu skizzieren. Sehr wohl aber können die hier abgedruckten Beiträge helfen, den Konflikt um „Stuttgart 21“ besser zu verstehen. Und vielleicht können sie auch helfen, sich ein Bild zu machen vom Reformbedarf unseres politischen Systems, der in Stuttgart beispielhaft verhandelt wird. 

Frankfurt am Main, im Frühjahr 2011

Autoren

Götz Aly, geboren 1947 in Heidelberg, ist Historiker und Journalist mit den Themenschwerpunkten Euthanasie, Holocaust und Wirtschaftspolitik der nationalsozialistischen Diktatur.

Max Bächer, geboren 1925 in Stuttgart, gründete 1956 sein eigenes Architekturbüro. Er war 30 Jahre lang Ordinarius für Entwerfen und Raumgestaltung an der TU Darmstadt und über Jahrzehnte einer der einflussreichsten Juroren bei internationalen Architekturwettbewerben.

Prof. Rafael Behr, lehrt Polizeiwissenschaften an der Hochschule der Polizei Hamburg.

Nils Büttner, geboren 1967, lehrt Mittlere und Neuere Kunstgeschichte an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart.

Matthias Deutschmann, geboren 1958. Der Kabarettist lebt mit seiner Familie in Freiburg im Breisgau.

Ferdos Forudastan, geboren 1960 in Freiburg im Breisgau, ist Publizistin und freie Autorin.

Peter Friedrich, geboren 1972 in Karlsruhe, ist Mitglied des Deutschen Bundestages und Generalsekretär der SPD Baden-Württemberg.

Prof. Karl Heinz Götze, geboren 1947 in Hofgeismar, ist Buchautor und lehrt deutsche Literatur und Ideengeschichte in Aix-en-Provence.

Seraina Gross ist Redakteurin bei der Basler Zeitung in der Schweiz.

Stephan Hebel ist Textchef der Frankfurter Rundschau und Mitglied der Chefredaktion.

Christine Homann-Dennhardt, geboren 1950 in Leipzig, war Richterin am Bundesverfassungsgericht. 2011 wurde sie zum ersten weiblichen Vorstandsmitglied der Daimler AG berufen, wo sie das neu geschaffene Ressort „Integrität und Recht“ übernahm.

Wiebke Johanning ist Pressesprecherin der Bewegungsstiftung. Die Stiftung ördert sie soziale Bewegungen, die sich für Frieden, Ökologie und Menschenrechte einsetzen.

Volker Lösch, geboren 1963 in Worms, ist Regisseur. Er arbeitet in Hamburg, Bremen, Berlin, Montevideo und Stuttgart, wo er auch lebt.

Hannelore Schlaffer, geboren 1939 in Würzburg, ist als Germanistin und Publizistin für verschiedene Zeitungen tätig.

Dr. Christian Schlüter arbeitet in der Feuilletonredaktion der Frankfurter Rundschau.

Joachim Wille, geboren 1956, ist Journalist bei der Frankfurter Rundschau und dort seit 2003 Reporter in der Redaktion Politik.

Textauszug

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Leseprobe

Matthias Deutschmann: Die tiefergelegte Zukunft

Hurra, der Herbst war da! Der Herbst der Entscheidungen. Eine steht noch aus, obwohl sie schon vor 15 Jahren still und leise gefallen ist. Stuttgart 21 wurde am 7. November 1995 so kunstvoll vertraglich fest gezurrt, dass dieser Knoten juristisch angeblich nicht mehr zu lösen ist. Ein Stuttgarter Bürgerentscheid wurde vom Verwaltungsgericht unter Verweis auf den Vertrag von 1995 abgewürgt. Der berühmte Professor aus Heidelberg, Frau Merkels Ex-Schattenfinanzminister Paul Kirchhof, fuhr ein Gutachten gegen eine landesweite Volksabstimmung auf und der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Voßkuhle, warnte allerhöchstrichterlich vor dem Verlust der Zukunftsfähigkeit, wenn in Stuttgart der Bahnhof nicht bald unter die Erde kommt.

Das erinnert ein bisschen an den „schrecklichen Juristen“ Hans-Karl Filbinger, der 1975 den Bau des Atomreaktors im badischen Wyhl beschwor: Wyhl muss gebaut werden, sonst gehen irgendwann die Lichter aus. Mit dem Protest seiner schwer erziehbaren Landeskinder sah der Landesvater damals die Unregierbarkeit im Musterländle  aufmarschieren. Aber das Land blieb ruhig. Filbinger ließ die Finger vom Zukunftsprojekt  Wyhl und die  CDU schwang sich bei den Landtagswahlen 1976 mit 56,7% endgültig zur Staatspartei auf. Seither gehört  das Amt des Ministerpräsidenten zum gefühlten Besitzstand  der CDU. Bei seinem Amtsantritt 2009 dachte Mappus bereits laut über seine künftigen Wiederwahlen nach. Wer  hätte  dem Pforzheimer Ellenbogentalent und Erwin-Teufel-Meister-Schüler denn auch gefährlich werden sollen? Die Personaldecke der Südwest-CDU ist ebenso  so dünn wie kleinkariert. Aber nach dem 30. September und den Polizeiausschreitungen im Stuttgarter Schlossgarten  ist das Karriereende des Stefan Mappus unerwartet am Horizont aufgetaucht. Ein Ministerpräsident als evidente Verkörperung des Obrigkeitsstaates passt auch in Baden-Württemberg nicht in politische Landschaft.  Der Untersuchungsausschuss  − von der SPD erst unter dem Druck der Basis erzwungen −  wird  jetzt  klären müssen, warum  Polizeibeamte so hemmungslos Menschen, von denen keine Gewalt ausging, Pfefferspray ins Gesicht sprühten. Hat Mappus die Polizei zum Prügeln ermutigt? Das Verprügeln von Schülern mutiert im juristischen Jargon des Polizeisprechers zur Maßnahme des unmittelbaren Zwanges. Aber was war das Ziel? Es ging darum, im Herbst der Entscheidungen so schnell wie möglich die Säge an die Bäume im Schlossgarten zu setzen. Um Mitternacht kam die Botschaft: Die Bäume fallen, es gibt kein Zurück mehr. Widerstand ist zwecklos! Zu solch einer Schockbehandlung gehört nun mal die grobe Unverhältnismäßigkeit der Mittel. Ich gebe zu, dass für Liebhaber der politischen Satire die Landesregierung von Baden-Württemberg ein Geschenk des Himmels ist. Der Innenminister Heribert Rech erkennt noch am Abend kein Versagen der Polizei und bleibt bis heute dabei. Damit hat er vermutlich sogar Recht. Seine Einschätzung, die Wasserwerfer hätten ihr kühles Nass nur als Sprühregen verteilt, gilt − angesichts des schwer verletzten Polizeiopfers Dietrich Wagner - als Paradebeispiel für Zynismus im Amt. Ich persönlich wünsche mir einen Innenminister der bei Schlüsselbegriffen wie Demokratie und Deeskalation keine Artikulationsschwierigkeiten hat, aber wie schon gesagt, die Personaldecke der CDU ist dünn, dafür aber der Wille zur Macht ungebrochen. Mappus wird kämpfen und Dirk Metz, der altgediente Persönlichkeitsberater von Roland Koch wird ihm als Ideenflüsterer hilfreich zur Seite stehen.

Aber vorher wartet die Welt  natürlich auf das Ergebnis der Schlichtungszeremonie und die kluge Empfehlung  von Heiner Geißler. Was wird er sagen? 15 Jahre Bauplanung und Genehmigungsverfahren sind weniger ein Argument für die  forcierte Verwirklichung von Stuttgart 21, als ein Beweis für mangelnde Transparenz, fehlende Koordination und bürokratischen Schlendrian? Das gerichtliche Abbügeln von Einsprüchen darf nicht mit Bürgerbeteiligung verwechselt werden?
Die Vision von der Magistrale Paris - Budapest reißt niemand vom Hocker?  Oder vielleicht: S21 ist ein Hochglanzprojekt der Postmoderne, die aber ist mittlerweile vorbei? Heiner Geißler hat das Zeug zum Sicherheitsrisiko für die CDU.

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